Die Bürger von Riegelsberg

1995, öffentlich aufgestellt am 01.05.1996, eingeweiht am 22.5.1996 von Bürgermeister Ringle
600 cm x 150 cm x 150 cm
Betonsockel in Form eines gekrümmten Obelisken, gefliest, Figuren aus Aluminiumguss
Saarbrücker Str. 31, 66292 Riegelsberg, Rathaus Riegelsberg

Der Ort

Auf dem Vorplatz des Rathauses der Gemeinde Riegelsberg, auf der Achse der Rathaus-Baugruppe, wird in einen rechteckigen Brunnen Wasser vom Südhang her als offenes Rinnsal eingeleitet. Aus diesem Brunnen neigt sich ein zum Viertelbogen konvex gekrümmter und verkürzter Obelisk dem Rathauseingang zu. Er ist verkleidet mit kleinen schwarzen genoppten Fliesen, ein Hinweis auf die einstige Steinkohleregion Riegelsberg. Auf dem oberen Teil des zum Viertelkreis gebogenen Obelisken bewegen sich zwei weibliche und drei männliche Figuren von etwa einem Meter Körperhöhe in aufwärts gerichteter Laufrichtung. Ein kleines Mädchen hockt auf dem Grund des Obelisken. Eine der männlichen Figuren sitzt in einem Rollsitz, geschoben von einer anderen männlichen Figur. Die Gruppe wird angeführt von einem Mann in viertel Linksdrehung mit erhobener linker Hand, die ein Dokument mit Text in Richtung der Mitarbeiterbüros schwenkt, auf dem ein handschriftlicher Schriftzug erkennbar ist: Oswald Hiery ´95.
Am unteren Teil des Bogens läuft ein Hund, sich vom Rathaus entfernend, die Krümmung abwärts.

Das Werk

Alle Einzelfiguren unterschiedlichen Alters sind nicht naturalistisch, sondern typenhaft als Ganzporträt modelliert und in gestischer Bewegung dargestellt. Sie laufen zwar einzeln und hintereinander aufwärts. Das zeitliche Moment der sukzessiven Reihung aber formt sie kompositorisch zu einer temporären Gruppe. Ihre Beschwingtheit, ihre Vitalität, ihr Elan, ihre Tatkraft, ihr Schwung, kurz: Die innere Bewegung der Gruppe ist in die Gestik der einzelnen Figuren so inkorporiert, dass jedes der Attribute für jede Einzelfigur gilt. Die Beschwingtheit der Gruppe ist kompositorisch inszeniert. Auch gestisch ist die Gruppenkohäsion deshalb deutlich erkennbar, weil ihre expressiven Gebärden choreografisch aufeinander abgestimmt sind. Selbstbewusst und fröhlich steigt sie auf dem Rücken des Obelisken gemeinsam zum Rathaus Riegelsberg auf, in paritätischer Besetzung mit drei weiblichen und drei männlichen Mitgliedern.

Dazu passt ihre demografische Altersstruktur, sie scheint repräsentativ zu sein für die aktive Lebensspanne. So symbolisiert die Gruppe ein anschauliches Beispiel von Vergemeinschaftung1. Gestimmt und eingestimmt schreitet sie der Rathausmittelbrücke gutgestimmt und hoffnungsvoll entgegen – selbstbewusste und erfolgssichere Entschlossenheit ausströmend. Überhaupt scheint die gute Stimmung ihr Kollektivmerkmal zu sein.

Alle Mitglieder der Gruppe gehen weder mit einem lachenden noch mit einem weinenden Auge in ihr Rathaus, sondern als selbstbewusste Bürger. Sie wirken wie eine Gesandtschaft, die spontan zum Erlebnisausflug ins Rathaus entsandt worden ist, als selbstbewusste Repräsentanz  der Bürger von Riegelsberg, als deren Abgesandte und in deren Auftrag. Und sie verkünden eine inkorporierte Botschaft – im Wortsinne.

Die inneren Einstellungen der Beteiligten lässt der Künstler Oswald Hiery bei der Gestaltung seiner Werke – oft überraschend und unerwartet – durch eine Gebärde sichtbar werden, manchmal durch die einer Einzelperson, manchmal durch eine Gruppengeste. Die Umformung einer inneren Haltung in eine lesbare Gebärde ergänzt oder betont deren Bedeutung und dramatisiert sie im Kontext des Gruppenhandelns. Das gilt in sehr verdeckter Form auch für Die Bürger von Riegelsberg bei ihrem Amtsgang. So sehen wir als letzte Figur hinter der Gruppe der amtseilenden Bürger einen Bullterrier. Er – immerhin als Kampfhund berüchtigt – steigt, symbolisch und stellvertretend, als einziger nicht zur Amtshandlung auf, sondern eilt den gekrümmten Obelisken abwärts – offenbar einem instinktiven Fluchtreiz folgend. Für den Betrachter ergibt sich durch das bildhauerische Gestaltungsmoment, die innere Haltung als Gebärde sichtbar werden zu lassen, ein zusätzliches Identifikationspotenzial mit dem Kunstwerk. Denn die Gefühlslage, die das Stichwort ‚Amtsgang’ oder ‚Amtshandlung’ bei manchem Bürger auslöst, wird durch diese Umformung sichtbar und atmosphärisch spürbar, dargestellt als Fluchtreiz des Bullterriers2.

Das Symbol

Das Kunstwerk Die Bürger von Riegelsberg ist eine allansichtige Vollplastik. Aber die Figurengruppe auf der oberen Krümmung des Obelisken ist denkmalartig hochgesockelt und nur über Augenhöhe zu sehen. Aus diesem Grunde können die Einzelfiguren als Gruppe nur von den beiden Seiten des gebogenen und ansteigenden Obelisken sichtbar werden. Aus diesem Blickwinkel wird dem Betrachter deutlich, sie werden gezeigt. Der Künstler zeigt hier den verantwortungsbewussten, auf das Gemeinwohl orientierten Bürger, den Citoyen, das ideale Wunschbild der Theorie, des idealen Verhältnisses von Bürger und Kommune. Diese Perspektive formt die Einzelfiguren zu einer Mustergruppe, die jedem Betrachter beispielhaft vorzeigbar ist und für den Gang zum Rathaus ‚zur Nachahmung empfohlen’ werden kann. Damit korrespondiert die denkmalähnliche Aufsockelung und der ihr folgende Blick des Betrachters nach oben. Das mustergültige Beispiel lässt sich auch kompositorisch begründen. Denn die Gruppe auf dem Weg ins Rathaus Riegelsberg repräsentiert Gemeinsinn durch Bürgertugenden: Öffentlichkeit (sie vertreten ihre Interessen öffentlich), Gemeinschaftlichkeit (jede Figur ist Mitglied einer Gruppe), Freiwilligkeit (Selbstmotivation aufwärts zu schreiten), Friedfertigkeit (Freundlichkeit aller Gebärden). Deshalb sind Die Bürger von Riegelsberg nicht nur wegen der hohen plastischen Qualität des Kunstwerks vorzeigbar, sondern auch, weil sie die in die Gruppe gestalterisch inkorporierten Bürgertugenden beispielhaft repräsentieren.

Die Referenz

Eine berühmtes Denkmal hat bei den Überlegungen des Bildhauers Oswald Hiery für die Plastik vor dem Rathaus in Riegelsberg sicherlich und ganz bewusst titelgebend Pate gestanden: Auguste Rodins Die Bürger von Calais. Inhaltlich und gestalterisch bildet es einen programmatischen Kontrast3. Aber formal betrachtet behandeln beide Kunstwerke das Verhältnis der Stadtbürger zur ihrer kommunalen Obrigkeit – aus Künstlersicht und aus einer zeitlichen Distanz von genau 100 Jahren. Die Bürger von Calais, Rodins wertgeschätzte Plastik, enthüllt im Jahre 1895, gilt als Symbol der Bürgertreue zur Stadt Calais4. In Hierys Plastik Die Bürger von Riegelsberg aus dem Jahre 1995, genau einhundert Jahre nach der Enthüllung von Rodins Plastik Die Bürger von Calais, symbolisiert der Gestaltwandel auch einen gesellschaftlichen Wandel: Die angestrebte Bürgernähe der Verwaltung, auf die Hierys Kunstwerk Bezug nimmt. Als zeitgenössischer Maßstab für Bürgernähe muss diese Komposition des Bildhauers Oswald Hiery allerdings notwendig ambivalent bleiben, im ästhetischen Irgendwo zwischen Realität, Wunschvorstellung und Utopie. Auch hier bleibt sie den Ambivalenzen der zeitgenössischen Moderne verpflichtet – und spielt gestalterisch mit ihnen.

Die Brunnenplastik Die Bürger von Riegelsberg aus dem Jahre 1995 ist ein Figurenensemble, das in einem Wasserbecken aufgesockelt ist. Sie ist die siebte und letzte einer Serie von Brunnenplastiken, die von Oswald Hiery in einem Zeitraum von 32 Jahren für den öffentlichen Raum gestaltet worden sind. Sie gehört zu den Brunnenplastiken mit dichter narrativer Struktur wie auch Abwehr (1963) und Die Saar und ihre Kinder (1991). Zur Reihe der Brunnenplastiken gehören auch Brunnen (1965), BrunnenBaum (1966), Kohle & Stahl (1980) und BrunnenPflanze (1983).

  1. „Die so heftig diskutierte Figurengruppe schließlich sei als eine Kurzformel unserer Gesellschaft gedacht“, so Architekt B. Focht, Wochenspiegel (SB) 23.5.1996
  2. Diese dramaturgische Brechung des Geschehens, oft auch mit komischer oder (selbst-) ironischer Wirkung, finden wir gestisch wieder im auspendelnden Balanceakt der Figur in der Plastik Quadratur des Kreises im Innenhof der Hochschule für Technik und Wirtschaft. Wir begegnen ihr gestisch auch beim Lastenträger vor dem Finanzamt in Merzig, der seinen Gesichtsverlust trägt, eben weil sein Gesicht vollständig in und mit der Last, die er trägt, verloren, ‚verlustig’ gegangen ist.
  3. Vgl. dazu . Moeglin, Jean-Marie (2002), Hat das Mittelalter lieux de mémoire erzeugt? In: Jahrbuch für europäische Geschichte, Band 3, 17-37; hier zum historischen Bezug der Plastik von Rodin besonders 33-37
  4. Vgl. dazu Moeglin a. a. O. 33-37