Flieger

1974
700 cm x 350 cm x 150 cm
Metall, Plastik, farbig emailliert
Schwarzer Weg 1, 66557 Illingen, Illtal-Gymnasium, Pausenhof

In luftiger Höhe und fest im Boden verankert schwebt auf dem Schulhof des Illtalgymnasiums eine Plastik über den Köpfen der Schüler. Ihren floralen Charme schöpft sie, beim ersten Augenschein, aus einer spielerisch wirkenden Offenheit. Offen von allen Seiten, offen für die Umgebung und mit ihr spielend, mit Wind, Licht und Flora. Das Postament, auf dem sie ruht, ist ein Fußgerüst, ein Piedestal, das seine Stützen nicht kontrapostartig ausstellt, sondern gleichberechtigt zum Boden strebend in ihm verankert, durch zahlreiche Querstreben verbunden. Sie wirken wie erdende Wurzeln, die über Verzweigungen kommunizieren. – Das Ungleichgewicht zwischen luftiger Plastik und zugreifender Erdung wirkt wie Spiel und Ernst zugleich. Diese Einheit des Gegensatzes von Spiel und Ernst scheint ein bedeutsames Merkmal des Fliegers zu sein. Sie erweckt im Betrachter den Eindruck, dass das Kunstwerk hier nicht das Innere durch die äußere Gestalt zur Erscheinung bringt1, sondern dass umgekehrt die innere Struktur einer äußeren Gestalt nachgebildet wird.

Im Jahre 2008 – 34 Jahre nach der öffentlichen Aufstellung – spricht der Bildhauer Oswald Hiery mit dem Autor Alfred Gulden über die Plastik. „Flieger? Flieger, hab ich das so genannt? Das ist an einem naturwissenschaftlichen Gymnasium. Alles war auf Chemie und so eingestellt. Die haben diese Dinger da gebaut. Du kannst die Plastik deuten, dass es ein Bild für Mikrochemie ist. Das ist so ein Gen-Strang. Es ist ein Modell. … Eisen, emailliert. In Signalfarben. Rot. Dass man es sieht. Rot und weiß. Es hat ja auch etwas Dekoratives“2.

Flieger? Gen-Strang? Der Gen-Strang ist ein Modell des Genoms, das zur bildlichen Darstellung von Erbinformationen dient. – Signalfarben? Dekorativ? Er, der Flieger, ist nicht nur da, er wird gezeigt, hoch, auf einem aus dem Boden wachsenden vielgliedrigen Fußgerüst mit Querstreben – oder erdenden Wurzeln? Auf ihnen schwebt das Modell von drei gewellten Gen-Strängen in Form von auf eine Mittelachse aufgereihten weißen und roten Scheiben. In unserm Kulturkreis symbolisiert die Farbe Weiß Reinheit, Neutralität, Hygiene und Rot Aktivität, Energie, Leben (Blut) und Kraft. Sie ist zugleich ein Appell an Achtung und Aufmerksamkeit. – Das Gesamt der Reizbegriffe – Flieger, Gen-Strang, Signalfarbe, dekorativ – erzeugt eine überlaufende Fülle von Assoziationen. Wie passen die zusammen? Erst unter dem Aspekt Schule fügen sie sich zu einem Sinnzusammenhang.

Der gesellschaftliche Bildungs- und Ausbildungsauftrag der Schule ist es, die Heranwachsenden für die Erhaltung und Übernahme des existierenden gesellschaftlichen Systems zu befähigen (Ausbildung), die gesellschaftlichen Ziele und Aufgaben der Zukunft sicherzustellen (Sozialisation), das bestehende Positionsgefüge zu erhalten (Reproduktion) und sie zu bilden (Erziehung). Zum gesamten pädagogischen Programm der Schule, insbesondere aber zu ihrem Bildungsauftrag gehört die erzieherisch angeleitete Hilfe zur Entwicklung der Schüler in diesem wichtigen, noch offenen, aber zeitlich begrenzten Ausschnitt ihres Lebens zu einer mündigen und verantwortungsbewussten Persönlichkeit. Denn nur sie kann ihr Wissen und ihre Fertigkeiten auf gesellschaftlich geteilte Werte beziehen und nur sie ist zur kritischen Reflexion über das eigene Selbst, die Umwelt und die Welt befähigt.

Diese werdende Persönlichkeit, deren Merkmale lebenslang mitlaufende Charakteristika des Denkens, Fühlens und Handelns bleiben, bildet sich in einem Rahmen, der durch die Trias genetische Ausstattung, Umwelt und Erziehung gesteuert wird3. Dieser Rahmen, in dem die Persönlichkeitsentwicklung stattfindet, bleibt allgegenwärtiger Begleiter bei jedem eigenen wie fremden Bemühen um Bildung. Spätestens von Geburt an ist jeder Mensch und jede Persönlichkeit genetisch einzigartig. Aber das Genom ist für die Entwicklung der Persönlichkeit nicht schicksalhaft4, das sind am ehesten noch die körperlichen Eigenschaften wie Körpergröße, Gewicht oder Familienähnlichkeit. Aber die Auswahl der angebotenen Umweltvariabeln wird genetisch gesteuert. Deshalb ist die Kenntnis des Rahmens, in dem sich die Persönlichkeit entwickelt, nützlich und hilfreich.

Der Flieger schwebt über dem Pausenhof, er ist für Lehrer und Eltern täglich anschaubar, er begleitet die Schüler seit mehreren Schulgenerationen. Der stete Anblick der Plastik kann die genetischen Wirkkräfte zur Entwicklung einer auch individuellen Welt- und Selbstsicht der Plastik symbolisch anschaulich präsent halten. Das gilt für die Schüler, die Lehrer und die Eltern. Das gilt insbesondere für eine Zeit, in dem der Glaube an den Einfluss der Erziehung unter dem Einfluss der Genomforschung erschüttert worden ist, gleichzeitig aber Eltern, Erzieher und Politik der Wunsch verbindet, die Persönlichkeitsentwicklung vorhersagbar zu halten, um auf die Zukunft vorbereitet sein zu können5.

Aber es gibt noch einen besonderen Grund für die kunstpädagogische Befassung mit dem Flieger. Durch die in sich ruhende raumneutrale Plastik, mit ihrer beschriebenen widersprüchlichen Einheit von Spiel und Ernst, mit ‚synaptischem Erdkontakt’, gewinnt die Ikonografie der Plastik eine symbolische Raumlineatur. Denn sie symbolisiert die allgegenwärtige und prägende Struktur der menschlichen Entwicklung, in Onto- und Phylogenese. Deshalb lässt sich auch die ästhetische Kompositionsformel des Kunstwerks auf die genannten drei Basen beziehen: Erbanlage, Umwelt und Erziehung. Vor diesem Hintergrund entwickelt die Plastik ihren Charme vollständig, wenn man sie auch als Symbol für das auszupendelnde Chancenangebot akzeptiert, aus dem sich im Laufe ihrer Biografie die Persönlichkeit entwickelt. Denn das Kunstwerk ist vielleicht eher noch als der Lernstoff geeignet, das Ich als das Ergebnis dieser drei Wirkkräfte auch fühlbar zu machen und emotional präsent zu halten. Die ästhetische Erfahrung, die das Kunstwerk auslösen könnte, ist, die Entstehung und Entwicklung des eigenen Ichs als Konstrukt einer balancierenden Identität zu erfahren, weil sie – lebenslang – auf der Inkompatibilität dieser drei Kräfte ausgependelt werden muss6. Zugleich macht es die eigene Person anschaulich als eine gleichzeitige und komplementäre Einheit: als biologisches und evolutionäres Gattungswesen, als lernfähiges Einzelwesen und als Teil einer Gemeinschaft, also als umweltabhängiges Subjektum.

Dies sind die vielleicht eher gefühlsmäßigen als kognitiven Lerneffekte für eine gebildete Persönlichkeit, die fähig ist, dieses Balancieren auf Inkompatibilität zu akzeptieren – gleichzeitig aber auch, Kultur tragen, stiften und tradieren zu können und zu wollen – und die Anschauung von Werken der Kunst als besondere Erkenntnisform in ihr privates Leben einzubeziehen.

  1. Das ist in der Regel bei allen figürlichen Plastiken des Bildhauers Oswald Hiery der Fall.
  2. Die Geburt des Hephaistos. Oswald Hiery im Gespräch mit Alfred Gulden, Ausstellung vom 4.12.2008-4.1.2009, Saarländisches Künstlerhaus, Saarbrücken 2008, 21. „Das Illtal-Gymnasium bietet neben dem Sprachenzweig einen naturwissenschaftlichen Zweig ab Klassenstufe 8 an. Die Schüler/innen erhalten in diesem Zweig bis Klassenstufe 10 verstärkt Unterricht in den Fächern Physik, Chemie und Biologie. … Biologie wird im naturwissenschaftlichen Zweig in 7 bis 10 durchgängig unterrichtet“; Selbstauskunft aus dem Schulprofil, abgerufen 04.04.2018): http://www.illtal-gymnasium.de/unsere-schule-2/bildungswege/.
  3. In der pädagogischen Genomforschung werden die Merkmale, die die genetischen Ressourcen der Persönlichkeit bilden, als BIG-FIVE-Faktoren zusammengefasst: Aktivitätsniveau (gesellig, kontaktfreudig, dominant, abenteuerlustig); Verträglichkeit (liebenswürdig, gutmütig, freundlich); Gewissenhaftigkeit (zuverlässig, ordentlich, gründlich); Emotionale Stabilität (ruhig, gelassen, selbstvertrauend); Erfahrungsoffenheit (originell, kreativ, phantasievoll, künstlerisch). Dazu zählen auch die eigenen kognitiven Fähigkeiten: Gehirnkapazität, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, die Schnelligkeit der Verarbeitung von Informationen, abstrakte Denkfähigkeit. Vgl. Rowe, David C., Genetik und Sozialisation. Die Grenzen der Erziehung, Weinheim 1997, 88, 126.
  4. „Die genomische Information ist nicht das bestimmende Element des Entwicklungssystems und vor allem konstituiert sie kein Programm, das Möglichkeiten und Grenzen der Individualentwicklung festlegt. … Es ist lediglich eine Entwicklungsressource der Individualentwicklung unter anderen und kein Code oder Programm, das ein spezifisches Verhalten oder Empfinden hervorbringt“, Lux, Vanessa, Genetik und psychologische Praxis Wiesbaden 2012, 138f.
  5. Hier kann die Schule (und sie tut es vielleicht auch) mit Bezug zur Kunst einen bedeutsamen Beitrag zur Selbstfindung leisten. Sie könnte etwa in einer gemeinsamen Unterrichtseinheit durch verschiedene Fachlehrer mit unterschiedlichen Kompetenzen (team teaching), durch inhaltliche Koordinierung des Themas (station teaching) eine mehrperspektivische Betrachtung und fachsystematische Wissensvermittlung betreiben: im Verbund von Pädagogik (Erziehungsaufgabe), Sozialwissenschaften (Sozialisation, gesellschaftliche Umwelt), Biologie (Genom) und Kunstunterricht (Kunst als spezifische Erkenntnisform).
  6. Zum Begriff der balancierenden Identität vgl. Krappmann, Lothar, Soziologische Dimensionen der Identität, 1969,70ff.