Lastenträger

1965, öffentlich aufgestellt 1982 (Bronze)
2,5 m x 1,3 m x 1,2 m (Figur); Bronzesockel: 1,75 m x 1,75 m x 0,65 m
Bronze 1982, nach Holzplastik 1965
Finanzamt Merzig, Am Gaswerk 9, 66663 Merzig

Mit dem Lastenträger ist es beim Betreten des Finanzamtes Merzig wie mit der Steuerpflicht bei Berufseintritt, beide sind unausweichlich. Die materielle Steuerpflicht in Form einer Abgabe zu entrichten gehört zwar zu den zivilgesellschaftlichen Verpflichtungen eines jeden Bürgers, weil sie auf das Gemeinwohl orientiert ist. Gefühlsmäßig aber nimmt diese Pflicht jeder auf seine eigene Weise wahr und er darf es deshalb tun, weil niemand nur Bürger, sondern immer auch Privatperson mit ganz eigenen Wünschen, Pflichten und Bedürfnissen ist. Wie viel Bürger und wie viel Privatperson der Einzelne in jedem Moment ist, kann nur er selbst entscheiden.

Einige der Gefühlslagen, die sich aus diesem Zwiespalt ergeben, führt die Plastik des Bildhauers Oswald Hiery vor. Sie führt sie simultan so vor, dass eine Vielzahl von Bürgern sich angesprochen fühlen und deshalb jeder seine eigenen gefühlsmäßigen Einstellungen zur Steuerpflicht widergespiegelt finden kann. Diese Ansprache zeigt der Lastenträger auf den ersten Blick anschaulich, denn er tut es gestisch.

Was trägt der Lastenträger? Er trägt eine Last. Wie trägt er sie? Als Bürde oder als Geschenk, als Pflicht oder Gabe? Als Schuld, die er loszuwerden froh ist; als Pflichtteil, den er pflichtschuldig erbringt; als süße Last, die er gerne trägt, auch wenn sie schwer ist; als der Pflicht, einer positiven Rechtsordnung gehorchend, nicht dem eigenen Triebe; als Solidaritätsbeweis; als Ausdruck gemeinsamer Wertüberzeugungen? Die Entscheidung jedes Einzelnen in dieser Frage gründet auf zivilgesellschaftlicher Disziplin und auf bürgerlichen Tugenden, die eine rechtsstaatliche Demokratie zu ihrem Schutz voraussetzen muss. Aber sie meint Pflichterfüllung und nicht die Art und Weise, wie sie geschieht. Die Frage, was der Lastenträger trägt, ist deshalb objektiv gar nicht, aber für jeden einzelnen subjektiv sehr wohl zu entscheiden. Sie ist aus diesem Grunde auch nur vielstimmig zu beantworten, und jede Antwort ist richtig – für irgendwen. Diese Vielstimmigkeit der Antworten ist in der Komposition angelegt, durch die der Künstler die Vieldeutigkeit und die Zusammenhänge darstellerisch anschaulich macht.

Er zeigt sie durch Gesten und Kostüm an einer weit überlebensgroßen männlichen Figur im Outfit eines Handwerkers, deren optische Präsenz der Sockel hervorhebt. Aber die Zeichen an ihr sind vieldeutig und widersprüchlich und je nach ihrer Zusammensetzung durch den Betrachter ergibt sich für ihn sein subjektiver Sinn.

Zwei dieser ikonischen Elemente fallen sofort ins Auge: das in die Last versenkte Gesicht und die übergroße Last selbst. Was symbolisiert die große Last, ‚schwer wiegende‘ Schuld oder ‚verpacktes Geschenk’? Das Gesicht der Figur verschwindet in der Last. Ist es versenkt, versunken oder versteckt? Meint diese Geste Einkehr, Scham, Gesichtsverlust, Orientierungslosigkeit, fehlende Übersicht, blinde Übereignung? – Diese Vielstimmig- und Vieldeutigkeit der einzelnen Elemente setzt sich in der Gestik der Figur fort. Sie stützt mit großen und muskulösen Händen und austarierender Körperhaltung sorgfältig die Last, die sie bäuchlings zwischen ihre schützenden Hosenträger gespannt trägt. Das Outfit, die Berufs- oder Alltagskleidung, verleihen dieser Tätigkeit unauffällige Selbstverständlichkeit.

Unterhalb der Last zeigt sich ein verspieltes Detail. Auf der linken Seite ist der tragende Gurt hinten Hosenträger, vorne Spanngurt mit Schnalle. Diese gestalterische Komponente zeigt anschaulich die leibliche Anspannung beim Tragen der Last. Das letzte Detail, wie auch die Vieldeutigkeit der einzelnen Zeichen, verweisen auf einen humoristischen Grundton der Plastik, der für den Betrachter atmosphärisch immer mitschwingt. Auch dieser Grundton erleichtert es dem Betrachter, in der Figur verschmitzt eine einverständige Selbstbeschreibung zu entdecken.

Die hier vom Kunstwerk Lastenträger anschaulich dargestellte lebensweltliche Situation muss und darf allerdings nicht zu eng und nicht nur auf ihren Aufstellungsort bezogen gesehen werden. Sie gilt für viele Situationen in vielen Lebenslagen des Alltags, in denen gefühlsbezogen entschieden werden muss. Darauf weist das Werk selbst hin. Denn die Aufschrift auf dem Plastiksockel zeigt zwei Jahreszahlen. Man kann davon ausgehen, dass die Skulptur in Holz aus dem Jahre 1965 stammt, der Bronzeabguss aber von einem weitsichtigen Unbekannten im Jahre 1982 auf seinen jetzigen Standpunkt gesetzt wurde.