Mahnmal

1977, öffentlich aufgestellt 12.11.1977
4 m x 2 m x 1 m
Bronze
Reimsbach - Ehrenfriedhof, Kriegerfriedhofstraße, 66701 Beckingen-Reimsbach

Das Mahnmal des Bildhauers Oswald Hiery steht im Vorhof zum Gräberfeld des Ehrenfriedhofs in Reimsbach. Es ist am 12.11.1977 vom saarländischen Innenminister Alfred Wilhelm am Vorabend des Volkstrauertages der Öffentlichkeit übergeben worden. Das Datum ist gut gewählt, denn der Volkstrauertag ist der bundesrepublikanische Gedenktag an die Opfer beider Weltkriege, an die des faschistischen Regimes, aber auch an die Opfer, Gefallenen, Getöteten, Vertriebenen, Verfolgten und Widerstandskämpfer jeder Gewaltherrschaft aller Nationen1.

Diese Plastik im Vorfeld zum Gräberfeld ist kein Kriegerdenkmal, kein Ehrenmal. Es ist ein Mahnmal zum Frieden, es zeigt beispielhaft die Folgen des Krieges am Menschen. Aber es ist ein Mahnmal, das seine Kraft durch Hoffnung entfaltet. „Unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt“, so auch der ranghöchste politische Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland, der Bundespräsident, in seiner Rede zum Volkstrauertag im Jahre 2016. An diesem Gräberfeld und vierzig Jahre nach Aufstellung des Mahnmals hat diese Hoffnung auch einen Namen: Europa2.

Kunstgeschichtlich lässt sich das Mahnmal in die bildliche Tradition der christlichen Kunst einordnen. Es repräsentiert ikonografisch einen bestimmten Bildtypus zu Ereignissen aus dem Leben Jesu. Diese Ereignisse, von der Geburt bis zur Himmelfahrt, sind zentrale Themen christlicher Ikonografie. Eine ihrer Gattungen bildet die Passion und hier findet sich wiederkehrend auch die Kreuzabnahme als kunstgeschichtlich eigenständiger Bildtypus. Er bezieht sich, folgt man der Bibel, zunächst auf drei Personen. Diese Urszene aus drei Leibern – Josef von Arimathäa, der Leichnam Jesu, Nikodemus – bildet für den Künstler das gestische Gerüst der Komposition. Die drei Leiber bilden den Resonanzboden für die verstörende und schicksalsbewusst-melancholische Atmosphäre, die das Mahnmal erzeugt3. In der biblischen Erzählung von der Abnahme Jesu vom römischen Strafkreuz sinkt – nach der Beschreibung des Evangelisten Johannes – der gekreuzigte Christus in die Arme der beiden Helfer. Er kehrt aus seiner öffentlichen Geltung am Kreuz zurück in die Arme der Zwischenmenschlichkeit. So kehrt auch in der Darstellung des Mahnmals der vom fremden – aber vielleicht auch selbst erteilten – Befehl an das Kreuz des Krieges genagelte Sterbende zurück in den körperlichen Schutzraum, den die beiden helfenden Figuren bilden. Das Mahnmal verweist zwar auf das christliche Ursprungsthema der Kreuzabnahme, tut dies in mehrfacher Hinsicht aber in säkularisierter Form. Es ergänzt das christliche Thema um eine anthropologisch-humanistische Perspektive.

Das Kreuz, das Zeichen des grausamen Tötens, gilt im Christentum auch als Zeichen der Hoffnung auf ein neues Leben. Bei der Komposition des Mahnmals findet sich neben den drei Figuren aber kein Kreuz und auch kaum eine Geste, die Hoffnung auf ein neues friedliches Leben ohne kriegerische Auseinandersetzungen erlaubte. Wir finden in der Komposition Handlung und Gestik auf wenige Motive beschränkt, keine Beweinung, keine Äußerung von Schmerz, keinerlei Zeichen der Hoffnung. Keine Geste zeigt Glauben auf Erlösung, wie in der christlichen Tradition die Hoffnung an die Auferstehung Jesu. Die kulturelle Erfahrung von Gewalt scheint dem Mahnmal hoffnungslos eingeschrieben und die erlittene Gewalt als archaisches und aktuelles ungebändigtes humanes Potential akzeptiert zu sein. Wir finden neben den Gesten der Zwischenmenschlichkeit eher eine Situation, in der die Hilflosigkeit und das Leid im Angesicht der Todeserfahrung wie selbstverständlich wirken, in die die Leiderfahrung nicht nur Teil des eigenen Lebens, sondern als menschliche Daseinskonstante eingeschrieben ist. Die Komposition scheint von einer wenig hoffnungsvollen Zukunftserwartung her gedacht und die Hoffnungslosigkeit in die Leiber inkorporiert zu sein. Man kann die Komposition deshalb als mahnende Reminiszenz an die Gräber im Vorhof des Gräberfeldes und auf jeden einzelnen der hier Bestatteten, gleichzeitig aber auch auf alle Gräberfelder überall und zu allen Zeiten verstehen und deshalb in seiner Bedeutung auch als politischen Akt. Wie das kompositorische Zeigen ist auch die Wahrnehmung des Mahnmals erfahrungsgesättigt, weil die dargestellte Situation zeitlos und allerorts möglich wäre. – Natürlich leuchtet das beschriebene kompositorische Eigenglühen des Mahnmals aus Sicht des Betrachters als ein politischer Zuschreibungsakt, aber auch er teilt die durch Erfahrung getrübte Hoffnung.

Die beiden helfenden Figuren artikulieren ihre Anteilnahme pathosfrei und gestisch, die stützenden Hände, die geneigten Köpfe, die ausweglosen Blicke. Sie vermitteln Hilfe und Trauer, aber auch Hilflosigkeit gegenüber dem Geborgenen. Das gesamte Kompositionsgerüst ist auf diese drei Figuren reduziert, ohne jede Assistenzfigur und nur einem Accessoire. Minimalistisch reduziert ist die Komposition aber nicht nur in Bezug auf die von der christlichen Tradition abweichende Ikonografie und die literarische Quelle, minimalistisch befreit ist sie auch in der Ausführung der drei Figuren als nackte Leiber. Die kreatürliche Blöße zeigt das entzeitlichte Leiden am Krieg, von allen Völkern, zu allen Zeiten, überall und zugleich als überzeitliche Gegenwart. Hier tritt uns der Mensch als Gattungswesen gegenüber, im Typus der Zeit.

„Schmerz lässt sich nicht mitteilen oder darstellen, sondern nur zeigen“4. Dieses Zeigen ist die gestalterische Funktion der Nacktheit im Mahnmal. Denn die Darstellung der drei Figuren als nackte Leiber macht ihre Körpersprachen beredt, sie reduziert sie auf das Wesentliche, auf die menschliche Existenz. Die nackten Leiber symbolisieren aber auch die Gemeinsamkeit der Schmerzerfahrung, sie wirken als Fundamente der affektiven Teilnahme jedes einzelnen und zugleich als gemeinsames Symbol der Zwischenmenschlichkeit. Ihre bloßen Leiber sind das Gemeinsame, sie sind hier anthropologisches Fundament einer unmittelbaren Subjektivität5 und zugleich das künstlerische Darstellungsmittel, sie überhaupt zeigen zu können. Dieses Gemeinsame betont zugleich aber auch die Intersubjektivität des Handelns, sowohl zwischen den drei dargestellten Figuren als auch zwischen Mahnmal und Betrachter.

Die drei Figuren zeigen, jede für sich, in ihrer Nacktheit aber gemeinsam, subjektive Innenwelten als Reaktion auf die objektive Außenwelt. In dieser Nacktheit verschmelzen die innere und äußere Dimension ihres Schmerzes zu einer Einheit. „Der Zustand zwischen Leben und Tod lässt keine freie Wahl, denn die körperliche und die seelische Verfassung wird zur totalen Einheit“6. Sie macht es möglich, den gemeinsam empfundenen Schmerz vermittelbar zu zeigen. Erst in der Verschränkung von körperlicher und seelischer Verfassung wird der Schmerz zeigbar. Jetzt wird auch die Größe der Figuren deutlich. Die Übergröße der nackten Leiber meint die Übergröße des Schmerzes. Sie symbolisiert mahnend auch die Unerträglichkeit des menschlichen Leids. Und gerade wegen der Verschränkung dieser beiden Ebenen von Schmerz und gewaltsamem Tod im Zeigen, also in Bezug auf die Wahrheit der Szene, lässt sich das Mahnmal als realistisch bezeichnen.

Der Minimalismus der Komposition bedeutet auch einen weitgehenden Verzicht auf jedes unterstützende ikonografische Nebenrauschen. Das Mahnmal überrascht deshalb mit dem einzigen Accessoire des gesamten Werks, dem Helm. Wäre der Kopf des rechten Helfers, der höchsten Figur, mit einem Stahlhelm bedeckt, wäre das auf den allerersten Blick weniger erstaunlich, aber die gesamte Darstellung des Mahnmals müsste dann auf den Krieg bezogen werden. Es bezieht sich aber nicht auf den Krieg, sondern auf die Zeit des Friedens und gerade auf die Friedenszeit, in der über Gewalt nachgedacht und der Frieden institutionell gesichert werden könnte, etwa als Platz des Europäischen Versprechens7. Aus diesem Grunde können wir als Accessoire auch kein militärisches Symbol, sondern nur eines der Zeitgenossenschaft erwarten, das Schutzbedürftigkeit anmahnt. Wir finden deshalb einen Motorradhelm, einen Integralhelm höchster Sicherheitsstufe, ein modernes Zeichen erleidender Gewalt. Oder vielleicht auch der Gewaltbereitschaft im Handeln der Zivilgesellschaft? Der Helm weist auf die grundsätzliche Schutzbedürftigkeit der Person in Krieg und Frieden – aber vor allem auch in der Gegenwart der Zivilgesellschaft, der er als Zeichen entlehnt ist.

In der Rückbesinnung auf diese zeitgenössische Gegenwart bricht sich im Helm der kritisch-konstruktive Realismus einer reflexiv verstandenen Moderne als gestalterischer Leitgedanke im Werk des Bildhauers Oswald Hiery symbolisch Bahn.

In seinem Werk im öffentlichen Raum taucht im Mahnmal aus dem Jahre 1977 zum ersten Mal ein technisches Versatzstück in Verbindung mit einer menschlichen Figur auf, hier in Form des Motorradhelms. Technische Accessoires werden zukünftig dann allerdings ein häufig verwendetes Gestaltungsmittel, etwa bei American Football (1978), Spieler (1981), Der Aufsteiger (1982), Bobfahrer (1988), Automedon (1993), Die Bürger von Riegelsberg (1995), Quadratur des Kreises (2002).

 

  1. „Auf dieser Kriegsgräberstätte fanden insgesamt 314 Opfer des Zweiten Weltkrieges verschiedener Nationen ihre letzte Ruhe, der jüngste wurde 17 und der älteste 55 Jahre alt, 290 deutsche, 7 ehemalige sowjetische, 17 Unbekannte. … Im Gräberfeld befinden sich links und rechts entlang des Hauptweges 19 Gräberreihen in alphabetischer Order. Die einzelnen Gräber sind durch Bronzekreuze mit Namensangaben gekennzeichnet“ (https://www.volksbund.de/kriegsgraeberstaette/reimsbach-ehrenfriedhof.html; abgerufen 13.12.2018. – Die Ausschreibung und die Ausführung des Mahnmals erfolgte im Auftrage des Innenministers des Saarlandes durch das Staatliche Hochbauamt.
  2. Gründung der Europäischen Union am 1.11.1993. Das Zitat vom Bundespräsidenten Joachim Gauck in: Totengedenken. Rede zum Volkstrauertag 2016, in: Volksbund Forum, Frieden, Vertrauen und Versöhnung. Reden zum Volkstrauertag 2016, Kassel 2917, 40. Vgl. auch Prediger, Rede anlässlich der Verleihung des saarländischen Kulturpreises 1987: „In der Nähe des jetzigen Friedhofs befand sich einst eine V1-Abschußstelle; heute liegt dort ein Waffendepot der US-Armee“, in: Alois Prediger, Der Bildhauer Oswald Hiery – Kunstpreisträger 1987, in: Unsere Heimat. Mitteilungsblatt des Landkreises Saarlouis für Kultur und Landschaft, hg. von der Vereinigung für die Heimatkunde im Landkreis Saarlouis e. V., Saarlouis 1987, Heft 12 (1987), 119.
  3. Die Kreuzabnahme, deren einzige literarische Quelle die Evangelien sind, nimmt Bezug auf mehrere Bibelstellen. In Johannes 19,38-40 ist sie, nach Jesu Tod, so beschrieben: „Danach bat Josef von Arimathäa, der ein Jünger Jesu war, doch heimlich, aus Furcht vor den Juden, den Pilatus, dass er den Leichnam Jesu abnehmen dürfe. Und Pilatus erlaubte es. Da kam er und nahm den Leichnam Jesu ab. Es kam aber auch Nikodemus, der vormals in der Nacht zu Jesus gekommen war …Da nahmen sie den Leichnam Jesu und banden ihn in Leinentücher“ (zitiert nach: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1985. Vgl. auch „Als Kompositionsgerüst hat dem Künstler die Kreuzabnahme Pate gestanden“, Amtliches Bekanntmachungsblatt der Gemeinde Beckingen, 1.Jg. Nr. 20 (17.11.1977), 1; so auch Heide Werner, Zynische Augen statt liebes Herz. Porträt: Oswald Hiery. Saar-Magazin extra, 2. Jg. Nr. 10-11, Saarbrücken 1977, 52:“Der Künstler hat das Kreuzabnahmemotiv etwas abgewandelt: Zwei nackte Männer bergen einen Toten“.
  4. Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M 2005, 67.
  5. Vgl. dazu Christian Walda, Der gekreuzigte Mensch im Werk von Alfred Hrdlicka. Unmittelbar anschauliche Intersubjektivität durch Leiblichkeit in der Kunst, Wien, Köln, Weimar2007, a.a.O., 127ff.
  6. So Alfred Hrdlicka in einem Gespräch; zitiert nach, Walda 2007, a.a.O., 242.
  7. So der Titel eines künstlerischen Monuments von Jochen Gerz aus dem Jahre 2015.