Menschenpaar

1972, öffentlich aufgestellt im August 1972
je Figur 300 cm x 100 cm
Aluminiumguss auf Plinthe
Universitätsklinikum des Saarlandes, Gebäude 6, Atrium, Kirrberger Str. 100, 66424 Homburg,

Ein Kunstwerk im öffentlichen Raum entfaltet seine Bedeutung in Korrespondenz zu seiner unmittelbaren Umwelt, indem es sich zu ihr in Beziehung setzt. Beim Betrachten der Plastik Menschenpaar aus dem Jahre 1972 allerdings entfaltet sich kein atmosphärischer Bezug zum Ambiente, hier sucht der Betrachter vergeblich nach Orientierung. Sie entfaltet ihre atmosphärische Bedeutung nicht standortgebunden, sondern nur in der Korrespondenz mit dem Betrachter. Man kann das Werk deshalb weder als Kunst am Bau bezeichnen, noch auf einen einzelnen Standort beziehen, sondern muss es eher dem privaten Bereich der freien Plastik zuordnen. Als freies, weder in die Architektur noch ins Ambiente eingebundenes Werk könnte es überall stehen.
Aber das mit Nacktheit bekleidete Menschenpaar widerspricht ganz unvermittelt all unseren Erwartungen. Dies tut es in besonderer Weise. Denn der intimen Sphäre des Privaten entrissen und in die Öffentlichkeit gestellt enttäuscht es durch die Gestalt seiner Oberfläche unsere eingefahrene Alltagswahrnehmung und stellt die Geltung unserer Routinen in Frage. Aus diesem Grunde könnte das Werk eigentlich nirgendwo stehen1. Der zeitgenössischen Wahrnehmung bleibt das Menschenpaar fremd. Es findet sich kaum ein mentales Milieu, das ihm Heimat böte, auch jede andere Platzierung bliebe ortlos. Denn der Alltagswahrnehmung erscheint die Darstellung dieser selbstbewussten existenziellen Nacktheit provokant und herausfordernd. Hier läuft ein sinnerweiternder Subtext mit, wir finden ihn schon in der Form einer gewissen Angriffslust durch die Themenwahl „Menschenpaar“. Denn Menschenpaar ist auch der Zeitgenossenschaft der endsechziger Jahre des 20. Jahrhunderts gewidmet2. Hiery hat seine Vorstellungen vom Existenziellen gegen die der Zeitgenossenschaft gestellt, auch hier beim Menschenpaar in minimalistischer Form, auf die ‚bloße’ menschliche Existenz bezogen, als Monument der Besinnung, der Orientierung. Das individuelle Selbstwertgefühl, das die beiden Figuren einzeln und als Paar ausstrahlen, ist nicht an Accessoires der Warenkultur gekoppelt. Es verdankt sich nichts anderem als sich selbst, symbolisch dargestellt durch seine Nacktheit. Als Zeitgenossen sind sie anders. Dies ist vermutlich auch der Anlass für die mentale Distanz, denn die Ästhetik des schönen Scheins duldet kein Anderes. Auch die gleichberechtigte Darstellung einer nackten und selbstbewussten weiblichen und männlichen Figur folgt in keiner Weise dem zeitgeistig modernen Anspruch an Körperschönheit oder Präsentationsregeln. Provokant aber wirkt die Darstellung der nackten männlichen Figur. Sie entspricht in keiner Weise den Konventionen der Zeitsignatur, denn der „öffentliche Körper“, der medial zur Schau gestellte Körper ist zur Entstehungszeit des Werks noch der weibliche.

Nicht nur die durch Fremdheit im öffentlichen Raum verdichtete Präsenz der beiden Figuren fordert den Betrachter heraus. Das geschieht auch noch durch eine andere atmosphärische Eigenschaft. Das Menschenpaar schaut aus seiner Zweisamkeit, aus der geschlossenen Architektur eines ganz eigenen Gefühlskosmos auf die Welt. Zwar weisen die kontrollierend wachen Blicke nach außen. Aber ihre Gesten sind nach innen gewendet, sie beanspruchen keine dramatische Bedeutung für den Betrachter. Das Figurenpaar bildet um sich herum einen zugangsoffenen Raum, der sich aus dem innerlichen Bewegtsein der beiden Figuren bildet, einen Raum, in dem die Figuren keine Gebärden machen, sondern ihre Gebärden sind. Sie bilden einen Gefühlsraum3. Erst der außeralltäglichen, der ästhetischen Wahrnehmung des Betrachters gelingt es, sich auf diesen Gefühlsraum einzulassen und erst dann erschließt sich ihm das Werk. Nicht die Alltagswahrnehmung, sondern erst die sinnliche Wahrnehmung schließt den Betrachter in den Gefühlsraum des Menschenpaars ein. Jetzt beginnt er, Unplatzierbarkeit als Appell, als Merkmal einer besonderen Qualität zu akzeptieren.

Wenn dies gelingt, erfährt der Betrachter eine Art Wiedergeburt. Das lässt sich vielleicht am Attribut der Nacktheit verdeutlichen. Sie ist in der gesellschafts- und konsumkritischen Entstehungszeit des Werks wie in der Gegenwartskultur von Verwertungsinteressen geprägt, bei denen Nacktheit eine besondere Rolle spielt. Nacktheit ist in der Alltagserfahrung als zu verhüllende Oberfläche der Verwertung kodiert. Jedes Kostümteil des zu bekleidenden Körpers ist davon betroffen, jedes trägt die Zeichen eines fremden Zeichenvorrats. Das gilt nicht nur für die bekleidete öffentliche und private Körperoberfläche in Sport und Freizeit. Die Kodierung gilt für den Leib selbst. Er hat heute seine ganz eigene Weise des öffentlichen Zeigens.

An den Figuren des Menschenpaars aber ist nichts Oberfläche, nichts Schein, sie haben keine äußere Hülle, weil ihre Oberfläche die dem Leib eigene, die selbst gefühlte, die eigene Oberfläche des eigenen Leibes ist. Stück für Stück geformt gegen den Zeitgeist der Ware. Ihre Körper haben nichts Theatralisches, nichts bloß Gemeintes, das sich zeigen will. Die Figuren ruhen miteinander. Sie sind dem verheißenen Paradies der Warenwelt entflohen. Der gesellschaftliche Druck, sich als außergewöhnlich und individualistisch zu präsentieren, scheint abgefallen. Verzicht auf jegliches Statussymbol, auf jede soziale Identität. Emanzipiert im Wissen, welches Paradies sie meiden. Nackt und bei sich.

Ihre Nacktheit liest sich als eine Metapher für diesen Zusammenhang. Hier finden wir den Appell, den die Erfahrung der Ortlosigkeit auslöst, als visuellen Hinweis auf den drohenden Verlust der conditio humana in der Moderne4.

  1. Es gibt gute Gründe für diese Sichtweise, die sich aus der Biografie des Werks erschließen lassen. Schon die Entscheidung für den Erwerb der Plastik verdankte sich einem Kompromiss. Die Werkmodelle entstanden in den Jahren 1968 und 1969 in Antwerpen. Hiery hatte hier drei verschiedene Modelle als Menschenpaare modelliert, jede der sechs Figuren 100-150 cm hoch. Hier wurden sie auch einer Besichtigungskommission der UKS vorgestellt. Die Auftraggeber hatten aber an eine stilisierende Darstellung mit Bezug zu anatomischen Formen gedacht. „Es kam schließlich zu einem Kompromiss: Der Bildhauer gestaltete die Handläufe für die große Freitreppe als organische, an Knochen erinnernde Formen – und durfte dafür dem Anatomie-Neubau gegenüber sein nacktes Menschenpaar aufstellen“. Im August 1972 wurde die Plastik dort aufgestellt und der Öffentlichkeit übergeben. Die häufigen Beschädigungen und Zerstörungen an dieser Stelle in den Folgejahren führten zur Restaurierung der Figuren Ende der 1970er Jahre. Da der Vandalismus nicht zu beenden war, vielleicht auch ermöglicht wurde durch „Vandalismus von oben“, wurden die zugefügten Schäden der Plastik im Jahre 1988 erneut restauriert. Sie wurde in der Folgezeit aber dem Zugriff und den Blicken der Öffentlichkeit entzogen und 1989 im geschlossenen Park des Kultusministeriums in Saarbrücken aufgestellt (Vorgang und Zitate aus: Koch, Wolfgang, Vandalismus. Einige Beispiele von Zerstörungen an Kunst im öffentlichen Raum im Saarland, in: Institut für aktuelle Kunst (Hg.), Kunst im öffentlichen Raum Saarland Bd. 1. Saarbrücken, Bezirk Mitte 1945-1996. Aufsätze und Dokumentation, Saarbrücken 1997, 48-49, Zitat 48.). Für die zahlreichen Reparaturen bis zum Jahre 2015 hat der Künstler die erforderlichen Abgüsse verschiedener Teile der Modelloriginale hergestellt, nach denen dann ein entsprechendes Gussstück aus Aluminium gefertigt und passgenau eingesetzt werden konnte.
    Aus ihrem Verbannungsort seit dem Jahre 1989 im geschlossenen Park des Kultusministeriums in Saarbrücken wurde sie am 28.1.2015, also nach einem 26 Jahre währenden Entzug erneut der Öffentlichkeit übergeben. Der neue Standort ist das geschlossene Atrium der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde am Universitätsklinikum, in dem auch Hierys BrunnenBaum aus dem Jahre 1966 aufgestellt ist. Beide Plastiken stehen sich in den Eckpunkten einer der Diagonalen des rechteckigen Atriums gegenüber. – Die Heimkehr ins UKS verdankt das Menschenpaar der Initiative der Freunde des Universitätsklinikums (vgl. Pfälzischer Merkur, Homburg, 30. 1. 2015; https://www.pfaelzischer-merkur.de/region/homburg/herausforderungen-und-grenzen_aid-2024478, abgerufen 11.1.2019 und UKS-report 1-2015,24; http://www.uks.eu/fileadmin/UKS/Aktuelles/Zeitschrift_UKS_Report/2015/UKS_Report_01_2015_WEB.pdf, abgerufen14.1.2019). Rekonstruiert man die Biografie dieses Kunstwerks von der Zeugungsphase über die Odyssee bis zur Aufstellung am Standort im offenen Atrium des UKS, also über einen Zeitraum von fast zwei Generationen, so scheint sie erst jetzt als freie Plastik angekommen und, nicht nur in Bezug auf den Standort, auch angenommen zu sein. Der Standort ist in jeder Hinsicht richtig gewählt.
  2. Man darf sich an Rilkes Beschreibung von Rodins Skulpturen erinnert fühlen, die ihm zufolge seinen Zeitgenossen fremd und obdachlos erschienen. „Fast möchte man einsehen: diese Dinge können nirgends hin. Wer wagt es, sie bei sich aufzunehmen“( Rainer Maria Rilke, Auguste Rodin, Leipzig 1920, 115)? Das Menschenpaar ist beschrieben worden als „eine der doch eher konventionellen Plastiken Oswald Hierys“, aber Hierys künstlerisches Potential entwickele sich „am intensivsten dort, wo der Formgestalter mit den Inhalten spielen und ihnen sinnerweiternde Subtexte unterjubeln kann“, so Ingeborg Koch-Haag, Der künstlerische Querdenker Oswald Hiery, in: OPUS, Heft 8, 2008, 15. Das widerspricht der Evidenz des Anblicks, denn das Menschenpaar tritt dem Betrachter auf den ersten Blick als Affront gegenüber, nicht aber als konventionell. Auch die beschriebene Werkodyssee lässt eher kein konventionelles Werk, möglicherweise aber auch ein naturalistisches Missverständnis vermuten.
  3. Vgl. Günter Anders, Obdachlose Skulptur. Über Rodin, München 1994, 23.
  4. Es gibt ein weiteres Werk von Oswald Hiery im öffentlichen Raum, das genau dieses Thema in einem anderen existenziellen Zusammenhang wieder aufnimmt. Auch die Nacktheit der drei männlichen Figuren im Mahnmal aus dem Jahre 1977 hat appellatorischen Charakter.