Carla

1965, öffentlich aufgestellt 1974
70 cm x 35 cm x 25 cm
Bronzeplastik auf Plinthe
Städtischer Kindergarten, Am Römerberg 3, 66740 Saarlouis-Roden

In einem Kindergarten in Saarlouis, umspielt von Mädchen und Jungen physiognomisch ähnlicher Statur, steht zwischendrin und ‚lebensecht’ die Plastik, Carla, in Bronze, geerdet auf rechteckiger Plinthe1, daumenlutschende Mädchengestalt im zweiten oder dritten Lebensjahr, mit rundförmigem, glattem, jeden Zugriff abpanzerndem Oberkörper- und Kopfschale, fremdelnd in sich ruhend, die Augen ganz nach innen gesogen. Sie zeigt in Ruhestellung – aber kontrollierend beobachtend – bedingtes Interesse an der umgebenden Umwelt. Der zurückgeführte Arm mit dem in den Mund gesteckten Daumen2 – physiognomischer Ausdruck der inneren Befindlichkeit – schließt visuell einen semantischen Kreis. Semantisch ist er, weil der gestischen Gestalt die momentane innere Einstellung des Kleinkindes entspricht: Lasst mich, mich und meinen Daumen, im Augenblick sind wir uns genug! Es ist für den Beobachter ein argumentativer Kreis, weil Semantik wie Geste rückbezüglich sind: Ich bin bei mir!

Nicht die Ähnlichkeit mit einer bestimmten Physiognomie ist das interpretatorische Richtmass des Kunstwerks, das unterscheidende Merkmal liegt nicht in einer wie immer gearteten physiognomischen Ähnlichkeit. Das Richtmass seiner Wahrheit ergibt sich aus der ästhetischen Erfahrung des Betrachters mit dem kompositorischen Gehalt der Plastik.

Genau hier findet sich ein wiederkehrendes Gestaltungsmoment im plastischen Werk von Oswald Hiery. In der Plastik Carla wird eine augenblickliche innere Haltung des Kindes als Gebärde optisch still gestellt. Seine innere Haltung wird dadurch sichtbar und visuell wiedererlebbar. Das Kunstwerk konserviert diesen Moment in seinem entwicklungspsychologischen Gehalt, entrückt es der Alltagspraxis, macht es für den Betrachter erfahrbar und stellt es dadurch auf Dauer. Es wird durch diese Transformation für den Betrachter nicht nur atmosphärisch erlebbar. Es aktualisiert seine eigene Erfahrung und macht sie optisch sichtbar. Denn diese Gestaltungsform macht es möglich, dieses Moment im Gedächtnisspeicher zahlreicher Eltern zu wachzurufen, es zu erinnern und die eigene vergangene Erfahrung als Teil des Gegenwärtigen zu aktualisieren.

  1. Im Zusammenhang mit der stehenden Kinderfigur gewinnt die Plinthe die Bedeutung von ‚Erdung‘. „Der Name kommt von einem griechischen Wort, das eine Platte von Ziegelstein, eine Fliese von gebrannter Erde bedeutet“, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste: in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Leipzig 1775, Teil 2 (K-Z), 910
  2. Das ist die autonome Vorläufergeste des später aus physiologischen Gründen empfohlenen Schnullerns. Folgt man der Kunstauffassung Baudelaires, dann zeigt sich hier die Plastik Carla als historisches Zeitdokument – im Ewigen der Komposition des Kunstwerks.